bis 15.06. | #4217ARTatBerlin | Meyer Riegger präsentiert ab 26. April 2024 die Ausstellung Lieber Nebelkopf, die Blaue Brücke is open des Künstlers Santiago de Paoli.
Wörter wirken nicht wie die geeignetsten Mittler, um Santiago de Paolis Gemälde zu fassen. Ein Kunstkritiker hat sie vor einiger Zeit sogar als „Biester” beschrieben, „die sich jeder fertigen Klassifizierung oder Beschreibung entziehen.” Vielleicht ließen sich de Paolis Bilder besser in Temperatur- und Gewichtangaben, Aggregatzuständen und Materialzusammensetzungen wahrnehmen, als sie mit Wörtern zu beschreiben, die Bedeutungen hervorrufen, die uns eigentlich immer weiter weg von der Realität des Bildes an sich führen statt zu ihr hin. Zu einer Realität, die gefühlt werden will.
Denn de Paolis Bilder fordern diese Nähe. Sie krümmen sich, pulsieren und bäumen sich auf, sie fiebern, taumeln, sprießen und strömen. Sie sind erotisch, intim, warm und dabei sind sie nie nur eins davon, sondern immer auch schon etwas anderes. Sie sind Metamorphosen. Aufgrund ihrer unkonventionellen Formate und ungewöhnlichen Materialien (Kupfer, Filz, Gips, recycelte Textilien oder Holz) haben sie im Raum zuweilen den Anschein skulpturaler Objekte.
Courtesy private collection, China, Photo: Alon Koppel
Kupfer zum Beispiel wird bereits seit dem 16. Jahrhundert als Bildträger verwendet und evoziert die christliche Ikonografie. Für de Paoli haben seine Materialien aber keine symbolische Bedeutung, sondern konkrete Qualitäten. Zunächst einmal ist Kupfer für ihn leicht zu beschaffen. De Paoli lebt seit ein paar Jahren in Upstate New York und das Material gibt es im örtlichen Baumarkt. Kupfer ist warm, es reflektiert das Licht, ist selbst aktiv und verändert die Farben. „Das Material gibt eine magische und unerwartete Antwort“, sagt de Paoli.
Die Formen in seinen Bildern vereinen in sich alle möglichen Potentiale, die sich dann und wann aktualisieren, also eine Gestalt annehmen. Eine dominierende Form, die sich immer wieder auf de Paolis Gemälden findet, ist ein derart rundes Hinterteil, dass es immer schon dazu tendiert, etwas anderes zu werden: Eine Vase, ein Geschlechtsteil, ein Heiligenschein, ein Hügel, ein Muskel. Schmetterlinge bevölkern den Bildraum, deren Wesen ja von Natur aus in der Verwandlung besteht. Seine Flügel werden zu Hüftknochen, vielleicht zu Lungen. Und die Spirale, die immer wieder ihren Weg auf de Paolis Bilder findet, sie wird zur Schnecke, zum Phallus und zum Blütenstempel. Die phallische Form taucht im Schmetterling auf, sie funktioniert aber auch als Hals, als Wirbelsäule oder Teil eines Steuerrads und das Rund eines Kopfes wird zur Brust, zum Hoden und zum Heiligenschein. Rippen kräuseln sich wie Haut.
each: 30,5 x 25,5 cm, unframed. Courtesy the artist and Galerie Jocelyn Wolff, Photo: Alon Koppel
1933 zeichnete Meret Oppenheim das Ohr des befreundeten Malers Alberto Giacometti als gotisches Körperfenster. Das Ohr als Fenster nach Innen. Das Kunstwerk als Scharnier zwischen Innen und Außen. Es gibt ein Bild von de Paoli mit dem Titel Nebelkopf, in dem das Fensterkreuz keine Trennung mehr zwischen Innen und Außen ist, sondern eine Verbindung: Ein geschlechtsneutraler Körper – Geschlecht ist in de Paolis Bildern fluide, denn seine Figuren sind sowohl männlich wie weiblich konnotiert – steht mit dem Rücken zu den Betrachtenden in einem Innenraum vor einem Fenster, das die Sicht auf eine Landschaft freigibt. Während die ungewöhnlich massigen Waden und das symmetrisch proportionierte Hinterteil, das wiederum auch an eine weibliche Brust erinnert, klar ausformuliert sind, beginnt sich der Körper ab der Mitte des faltigen – oder narbigen oder gerippten – Rückens aufzulösen. Das Fensterkreuz schließt den Körper schon in das Bild des Außen mit ein. Ein gelber Ast windet sich wirbelsäulenartig aus dem Rücken empor, weitere Äste verschlingen sich wie Arterien und der Körper löst sich auf – vielleicht formt er sich aber auch erst.
overall: 48 x 66 cm, unframed. Courtesy private collection, China, Photo: Alon Koppel
Es gibt ein Gemälde von Oppenheim mit demselben Titel – Nebelkopf – von 1974. Aus Schraffuren, aus einem Fast-Nichts in Grau-Weiß löst sich hier etwas, entsteht ein „Etwas“, ein Nebelkopf. Dabei ist nicht eindeutig, ob sich dieser Kopf im Schwinden oder im Erscheinen, im Moment der Bedrohung oder der Entfaltung, befindet. Genauso sind de Paolis Gemälde, wie Membranen, Orte des freiströmenden Austauschs zwischen Innen und Außen, zwischen Zonen, Wach- und Traumwelt, zwischen Bekanntem, Fremdem und Utopischem.
Die Scharniere, wie sie in Coum in butterfly & worm die drei Filztafeln miteinander verbinden, verweisen auf die Funktion der Malerei bei de Paoli: Die Malerei als Scharnier zu dem, was hinter dem Sichtbaren liegt, das aber nicht das Unsichtbare ist, sondern das, was wir sehen, wenn wir die Augen schließen und das, was wir fühlen, wenn wir zwischen Schlaf- und Wachzustand aus einem unbewussten Zustand hinaus in das Bewusstsein hineintaumeln.
Text: Alicja Schindler
Vernissage: Freitag, 26. April 2024, 18:00 – 21:00 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 26. April bis Samstag, 15. Juni 2024
Zur Galerie
Bildunterschrift Titel: Santiago de Paoli, Nebelkopf, 2024, oil on canvas, 241 x 120,5 cm. Courtesy the artist and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Basel
Ausstellung Santiago de Paoli – Meyer Riegger | Contemporary Art – Kunst in Berlin | Ausstellungen Berlin Galerien | ART at Berlin