bis 24.08. | #4330ARTatBerlin | WENTRUP präsentiert ab 28. Juni 2024 die Ausstellung Tempo Primo des Künstlers Thomas Wachholz.
Ein englisches Rätsel, das um 1900 populär wurde, stellt ein Dilemma dar: „Ein Mann betritt einen dunklen Raum. Er hat ein Streichholz in der Hand. In dem schwachen Licht kann er drei Gegenstände erkennen: eine Kerze, einen Kamin und eine Petroleumlampe. Die Frage ist: Welches soll er zuerst anzünden?“ Entgegen allen Erwartungen geht es nicht in erster Linie um die drei Gegenstände, die entweder Licht oder Wärme spenden können. Dabei wird übersehen, dass die Antwort bereits in seiner Hand liegt. Ohne das Streichholz anzuzünden, kann er nichts anderes anzünden.
Im Laufe seiner künstlerischen Karriere hat Thomas Wachholz viele Streichhölzer, ja ganze Serien von Streichhölzern in die Hand genommen. Für „Tempo Primo“ gesellen sich diese Streichhölzer zu Pinseln und anderen Utensilien, mit denen Wachholz in den letzten Jahren die Möglichkeiten des bildnerischen Gestaltens intensiv erkundet hat. Die Streichhölzer dienten in dieser praktischen Beziehung zuweilen als Modell, Motiv, Gegenstand oder sogar als Werkzeug.
Wachholz‘ Bilder zeigen immer wieder seine Faszination für Streichholzschachteln und Streichholzbriefchen. Diese Faszination rührt von ihrer Ikonizität, ihrer Zweckmäßigkeit, den chemischen Prozessen der Entzündung und schließlich dem Feuer her. Das vibrierende Glühen wird zu einem wiederkehrenden Thema, insbesondere in den letzten Jahren, in denen sich der Akt des Verbrennens zu einem performativen Dialog mit dem Publikum in Galerien, Ausstellungsräumen und sogar U-Bahn-Stationen entwickelt hat. Das Streichholz ist eine Aufforderung zum Handeln: zünden oder nicht zünden!
In Michel de Certeaus „Die Praxis des Alltags“ untersucht der französische Jesuit jene „Tricks und Kniffe“, Bewegungen und Handlungen, die im Alltag verwurzelt sind und sich aus tiefenpsychologischer Sicht im Vorbewussten abspielen. Dazu gehören das Gehen, das Erzählen, das Plappern und so weiter. Im Hinblick auf „Tempo Primo“ und die früheren Arbeiten von Thomas Wachholz muss unbedingt das Anzünden eines Streichholzes hinzugefügt werden. Die Detailbeobachtung wird zur emblematischen Hochkunst, wenn die Verschmelzung von abgebrannten Streichhölzern zum Motiv und Anlass für plastisches Arbeiten wird: Als Duo, als Küsser oder in diesen Tagen als Gruppe von Streichhölzern; nun in Bronze gegossen zu Skulpturen voller innerer Spannung und spielerischem Balancieren – festgehalten in einem Akt der Bewegung: Die Tänzer.
Der Titel der Show, „Tempo Primo“ – ein Begriff aus der Musik, der „zurück zum ursprünglichen Tempo“ bedeutet – bedeutet nicht, dass jemand wiederholt, was er bereits getan hat. „Tempo Primo“ ist eine Spielanweisung, das Neue mit dem Gewesenen in Kontakt zu bringen: Sich nicht im Kreis zu drehen, sondern sich wie in einer Spirale nach oben zu drehen. Damit kehrt Wachholz zum ursprünglichen Temperament seines Oeuvres zurück, das in der Tradition der Minimal Art malt. Neu ist das Format, das er sich als Maler erobert hat: Shaped Canvases. Monochrome Bildobjekte, die mit akribischen Pinselstrichen in das Rostrot der von Wachholz bereits mehrfach verwendeten Phosphorfarbe eingefärbt sind. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Malerei seit jeher eine Kunstform ist, die der Alchemie nahesteht. Wachholz rührt und mischt den Phosphor, damit er später eine Aktivierung erfährt. Wachholz nennt die Verarbeitung der Phosphorfarbe mit Streichhölzern Aktivierung. Das Ergebnis sind – wie bekannt – schwärzliche Einbrände, Verkohlungen, die in der neuen Serie als Verletzungen und Brüche der Bildoberfläche gelesen werden können. Es ist ein Eindringen in den Bildraum, ein Aufbrechen der Flächigkeit – es ist auch ein Zeugnis für die Körperlichkeit der neuen Werkserien.
Gleichzeitig ist „Tempo Primo“ eine Hommage an den inhärenten Rhythmus der neuen Bildobjekte. Dieser Rhythmus manifestiert sich im knisternden Stakkato fallender Streichhölzer, die, sobald sie entzündet sind, über die Bildflächen gefegt werden. Diese schwungvolle Bewegung, die an die Führung eines Dirigenten erinnert, hinterlässt Spuren auf den ansonsten monochromen Flächen. Cluster und Verdichtungen entstehen als flink gesetzte Strukturen, die sich wie Verse lesen lassen.
Doch schauen wir noch einmal hin, damit uns – anders als dem Suchenden im englischen Rätsel – nichts entgeht: Dann sehen wir Flammen und Flammenbruchstücke, wir sehen das Feuer und seine Folgen, wir sehen Bilder, Objekte, Monochromie – wir sehen das Offensichtliche. Wir sehen einen Künstler, der zu seinen Ursprüngen zurückkehrt, aber auf einer neuen Ebene. Wir sehen „Tempo Primo“.
Lars Fleischmann, 2024.
Thomas Wachholz (*1984) lebt und arbeitet in Köln. Er studierte an der Kunstakademie Düsseldorf. Er war Gegenstand von Einzelausstellungen im Kunstverein Heppenheim, DE | Wentrup, Berlin, DE | Galerie Ruttkowski;68, Köln, DE | THK Gallery, Kapstadt, ZA | Nino Mier Gallery, Los Angeles, USA | Galerie Lange + Pult, Zürich, CH | Ung5, Köln, DE | Nymphius Projekte, Berlin, DE | RaebervonStenglin, Zürich, CH.
Gruppenausstellungen finden unter anderem im Centre d’art contemporain Meymac, FR | Eduardo Secci Contemporary, Florenz, IT | Kölnischer Kunstverein, DE | Krefelder Kunstverein, DE | Marciano Art Foundation, Los Angeles, US | Neuer Aachener Kunstverein, DE | Bundeskunsthalle, Bonn, DE | Kunst im Tunnel, Düsseldorf, DE | Yves Klein Archive, Paris, FR statt.
Werke von Thomas Wachholz befinden sich in der Sammlung des Deji Art Museum, Nanjing, CN | US Marciano Art Foundation, Los Angeles, US | Frost Foundation, Santa Fe, US, sowie in zahlreichen Privatsammlungen weltweit.
Vernissage: Freitag, 28. Juni, 18:00 – 20:00 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 28. Juni bis Samstag, 24. August 2024
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Bildunterschrift Titel: Thomas Wachholz, Vier Tanzende (2), 2024 (Detail), Bronze, 52 x 57 x 35 cm
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