bis 19.10. | #4368ARTatBerlin | Galerie Esther Schipper präsentiert ab 13. September 2024 die Ausstellung the alphabet of my mothers and fathers des Künstlers Ugo Rondinone.
Ohne Nahrung sind wir nichts. Die Ausbreitung des Ackerbaus führte zu Nahrungsmittelüberschüssen, was einige von uns von der täglichen Arbeit des Jagens und Sammelns entlastete. Als die Landwirtschaft durch den Einsatz von Werkzeugen immer effizienter wurde, entstanden Berufe und Gewerbe, die die Zahl der Menschen, die mit der Nahrungsmittelproduktion beschäftigt waren, weiter reduzierten. Bauern, Köche und ihre Werkzeuge machten uns sesshaft, ermöglichten die Entstehung von Städten und Imperien, förderten die Standardisierung des Alphabets und des Zahlensystems und erleichterten die Verbreitung von Wissen und Kunst. Heute, in der industrialisierten Welt, ist der Anteil der Arbeitskräfte, die für die Versorgung mit Lebensmitteln benötigt werden, nur noch ein winziger einstelliger Prozentsatz der Bevölkerung, während die alten Werkzeuge der Landwirtschaft so gut wie verschwunden sind.
Ugo Rondinones Das Alphabet meiner Mütter und Väter, 2022, besteht aus sechsundzwanzig Sets vergoldeter landwirtschaftlicher Geräte, eines pro Buchstabe des Alphabets. Diese Geräte wurden von ihren Benutzern über zahllose Generationen hinweg von Hand gefertigt und dienten der traditionellen Landwirtschaft und Lebensmittelzubereitung. Indem er sie mit Blattgold überzieht und auf weiße Quadrate montiert, verwandelt Rondinone die Werkzeuge in königliche Hieroglyphen des Einfallsreichtums und des Könnens.
Exhibition view: Ugo Rondinone, the alphabet of, my mothers and fathers, Esther Schipper, Berlin, 2024, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/, Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti
Als Sohn süditalienischer Bauern, die in die Zentralschweiz ausgewandert sind, haben Rondinones Vorfahren solche Werkzeuge seit unbekannten Jahrhunderten hergestellt und verwendet. Der Ackerbau wird in Italien schon seit Tausenden von Jahren betrieben. Tatsächlich waren es die kaiserlichen Römer in Mittelitalien, die fortschrittliche landwirtschaftliche Techniken – Bewässerung, Fruchtwechsel, Verwendung von Spezialwerkzeugen – in ganz Europa und im Mittelmeerraum einführten.
Mit der Industrialisierung kam es zum Niedergang der traditionellen Landwirtschaft und zum gleichzeitigen Rückgang des Einsatzes der entsprechenden Werkzeuge. Dies kostete sie ein gutes Stück ihrer symbolischen Bedeutung. Mit dem Wissen um die Verwendung des Werkzeugs gingen auch die anspielungsreichen Implikationen eines Werkzeugs verloren. Als Antwort auf die starke Strömung der Geschichte, die seine Eltern entwurzelt hat, archiviert Rondinones Alphabet die traditionellen landwirtschaftlichen Geräte, während die Geschichte ihn sie in Idole verwandeln lässt.
Dank seines unantastbaren Tauschwerts ist die semiotische Ausstrahlung des Goldes tief und weit verbreitet. Als Zeichen von Heiligkeit und Hierarchie wurde es jahrtausendelang als exklusiver Schmuck von Göttern und Königen verwendet. Auch heute noch verleiht der warme Glanz des Goldes sowohl im Osten als auch im Westen dem, was es schmückt, sofortigen Status. Der kommunistische „Hammer und die Sichel“ sind ein seltenes Beispiel für vergoldete Werkzeuge. Das typischerweise in Gold dargestellte Symbol verdeutlicht den Triumph, den Optimismus und die Solidarität der Land- und Fabrikarbeiter. Die zeitgenössische Technologie vergrößert jedoch die schwindende Abhängigkeit der Landwirtschaft und der Industrie von der Arbeit, während sie die Veralterung ihrer symbolträchtigen Werkzeuge beschleunigt.
Exhibition view: Ugo Rondinone, the alphabet of, my mothers and fathers, Esther Schipper, Berlin, 2024, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/, Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti
Rondinones Vergoldung hat ihren eigenen Zweck. Jeder Gegenstand in seiner goldenen Sammlung ist „das Ding selbst und nicht die Ideen über das Ding“, wie der Dichter Wallace Stevens gesagt haben könnte. Das Verschwinden der Werkzeuge wird aufgehalten, indem das Gold dazu verwendet wird, „die Sache selbst“ zu verewigen, und nicht nur ihre Chiffre. Indem er die Werkzeuge unserer Vorfahren vergoldet, adelt der Künstler ihr Können und sakralisiert ihre Arbeit, was sich in den Gebrauchsspuren zeigt, die er mit Gold würdigt. Das ist keine ideologische, sondern eine kindliche Geste.
Ugo Rondinone ist die Quintessenz des zeitgenössischen Künstlers. Er ist dafür bekannt, dass er oft atemberaubend schöne Objekte und Erfahrungen produziert, die jedoch nicht in der formalen Entwicklung einer traditionellen, medienzentrierten Praxis vorweggenommen oder gar abgerufen werden können. Er verfolgt einen konzeptionellen Ansatz mit einer starken Neigung zum Poetischen. Trotz der scheinbar pragmatischen Einstellung zum Kunstschaffen – maßgeschneiderte Antworten auf spezifische Situationen – gibt es eine Kohärenz in der größeren Praxis des Künstlers, eine koordinierende Intelligenz.
Durch seine vielfältige und rätselhafte Produktion hat Rondinone eine einzigartige künstlerische Persönlichkeit geschaffen, eine Meta-Kreation, die alles zusammenhält. Diese heimliche Kohärenz kann in seiner kuratorischen Praxis erahnt werden, wie zum Beispiel in der thematischen Einheit seiner selbst kuratierten Übersichtsausstellung, die jetzt im Kunstmuseum Luzern zu sehen ist. Streng programmatisch versammelt die Ausstellung Werke aus verschiedenen Epochen, um die ineinander verschachtelten Themen Natur, Repräsentation und Kontemplation zu erforschen und sie wie metallurgische Adern in der Matrix seines Korpus offenzulegen. Mit seiner neuen Ausstellung bei Esther Schipper in Berlin bringt Rondinones Matrix Gold aus einer Ader hervor, die dem Gedenken verpflichtet ist.
Als vollendeter Erfinder besteht Rondinones Karriere aus einer Abfolge von unerwarteten Formen. Jede von ihnen beschwört eine Reihe von miteinander verbundenen Bedeutungen herauf, die die Realität um der Verzauberung willen relativieren. Das ist es, was wir seit jeher von den Künsten erwarten, die für unsere Vorfahren und für uns die Hauptquelle der Magie sind. (Text: Marc Mayer)
Exhibition view: Ugo Rondinone, the alphabet of, my mothers and fathers, Esther Schipper, Berlin, 2024, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/, Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti
Ugo Rondinone wurde 1964 in Brunnen, Schweiz, geboren. Er studierte an der Hochschule für Angewandte Kunst, Wien. Der Künstler lebt und arbeitet derzeit in New York. Zu den ausgewählten Einzelausstellungen der letzten Zeit gehören: Cry Me a River, Kunstmuseum Luzern (2024); burn to shine, Museum SAN, Wonju (2024); sunrise. east, Städel Museum, Frankfurt (2023); burn shine fly, Scuola Grande di San Giovanni Evangelista, Venedig (2022); vocabulary of solitude, Museo Rufino Tamayo, Mexico City (2022), und LIFE TIME, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main (2022).
Ausstellungsdaten: Freitag, 13. September bis Samstag, 19. Oktober 2024
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Bildunterschrift Titel: Exhibition view: Ugo Rondinone, the alphabet of, my mothers and fathers, Esther Schipper, Berlin, 2024, Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/, Paris/Seoul, Photo © Andrea Rossetti
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