bis 10.01. | #4515ARTatBerlin | OFFICE IMPART präsentiert ab Freitag, 15. November 2024 die Ausstellung BRACE, BRACE der Künstlerin Lena Marie Emrich.
Letzter Aufruf: Bahnsteig Unbekannt
“On the train, we swapped seats. You wanted the window, and I wanted to look at you.”
– Mahmoud Darwish
Der silberne Staub eines ganzen Lebens legt sich auf die endlosen „Ähs“ und „Hmms“ in Lena Marie Emrichs Ausstellung BRACE BRACE, füllt ihre Bilder und Skulpturen mit unendlichen spekulativen Träumen, die man im Aufbruch findet. Ihre Neigung zur Loslösung ist eine rätselhafte Erkundung der Schwebezustände des Lebens, unbekannter Ziele, einer Liebe zur Ungewissheit und zu einer in den Zwischenräumen liegenden Menschlichkeit, die den Betrachter als Reisenden inszeniert. Reisende setzen sich mit der Umwelt und den sozialen Verhältnissen intensiver auseinander als ihre gewöhnlichen Bewohner, die bei den besonderen Pen ihrer – tragischen oder nicht tragischen -Mise en Scène (Inszenierung) kaum zucken oder hadern. Von letzter Neugier erfüllt, verwandelt sie sich selbst in eine Pilgerin, mit langen Tränen in Nachtzügen, eine Gesetzlose, eine Nomadin, auf der Flucht, im Exil sanfter Grausamkeit), leicht angetan von orangen Sonnenuntergängen und dem poetischen Klicken fremder Zungen. Was sind unsere Überlebenschancen, wenn wir vor allem fliehen? Alles, was wir wirklich wollen, ist Zärtlichkeit.
Lena Marie Emrich, Brace, Brace (Bianca) , 2024, Photo mounted on security glass with crystal finish, 60 x 90 cm, Edition: 3, Courtesy the artist and OFFICE IMPART, Photo: Marjorie Brunet Plaza
BRACE BRACE (2024), ruft uns Emrich entgegen, während sie die Performancekünstlerin Bianca LeeVasquez bei den klammen Verrenkungen fotografiert, die uns Flugbegleiter beigebracht haben, um Aufpralle abzufedern, denen wir wahrscheinlich nicht standhalten können. LeeVasquez ist selbst nur vage sicher, in geduckter Haltung auf einer leeren, burgunderfarbenen Weinkiste und einem Werkzeugkoffer, mehrfach gefaltet wie Origami, atmet sie in chaotischen Krämpfen. Zu Atmen ist ein außergewöhnliches Talent, das ganz von der Geschicklichkeit des Ausübenden und seiner Nähe zum Tod abhängt. Auf Reisen werden wir wieder und wieder mit der Schutzposition vertraut gemacht, sehen pflichtbewusst zu, wie sie vorgeführt wird – Bewegungen, die wir wohl kaum jemals ausführen werden, und falls doch, wäre der Triumph des Bildes eine fast lächerliche Illusion. Beim Betrachten der großformatigen Fotos, die auf Sicherheitsglas, aufgezogen sind, verlieren sich unsere Gedanken in süßen Träumen von einem möglichen Überleben; Menschen hüllen sich in den Gestank vom Blut der Hoffnung und atmen über den turbulenten Refrain der Vernunft hinweg.
Lena Marie Emrich, Untitled, 2024, V Series, Recycled Hard Platic, Car paint, 38,5 x 23,5 x 10 cm, Unique, Courtesy the artist and OFFICE IMPART, Photo: Marjorie Brunet Plaza
Emrich nimmt neuen Bezug auf das fensterlose Gedicht des in Palästina geborenen Mahmoud Darwish, „A seat on a train“ (2002). Sein Lied stammt von einem Volk, das zehntausende Jahre alt ist, ihrer Suche nach Liebe und von der Poesie von Vertreibung, eine Liebe, die Grenzen sprengt und dem groben Maß der Zeit entkommt. Auf fernen Bahngleisen beschreibt Darwish Exil, Vertreibung, die Grundlagen kollektiver Erinnerungen, unser verzweifeltes Streben nach Liebe und Empathie und all die Adressen, die wir durch nostalgisch verpasste Verbindungen verloren haben. Sein sonorer Bahnhof ist eine dringende Angelegenheit; mit ungewisser Reaktion und mit leeren umgestülpten Hosentaschen distanzieren wir uns beklommen.
Emrich fängt uns im Randgebiet; für Back Seat Series (2024) installiert sie die präzise Form von Flugzeugklapptischen maßstabsgetreu, die mit Metallic-Lack überzogen sind. Die Künstlerin imitiert den stillen, stationären Sturm von Darwishs leisen, gemessenen Bewegungen, nominell und andeutungsweise, und bekundet Solidarität mit der atemlosen Sprache der Stille. Die Klapptische sind für den Auf- und Abstieg geschlossen, also lauschen wir dem Gesang der Flugbegleiter, den Hütern der perfekt eingehaltenen Zeit, und rutschen in wartender Haltung immer wieder auf unseren engen Stühlen umher. Wir warten auf die Erlaubnis, unsere Silbertabletts zu entfalten, wir warten darauf, dass der soziale Körper einheitlich handelt, wir warten auf Anweisungen: das ist unsere unheilbare Krankheit. Die Drinks an Bord sind maßlos überteuert; der Preis des Atmens ist das Leben – ein wackeliges Unterfangen. Die Passagiere starren stundenlang auf die kleinen Hebel, und so verschmilzt unsere vermeintliche Handlungsfähigkeit in Emrichs geschickten Skulpturen, eingehüllt in Geschichten von Vergangenen: ein sentimentaler rosafarbener Schal ihrer Großmutter, ein Strauch, eine Kette. Was ist unsere größte Nostalgie? Es ist unser bevorzugtes Medium, das Experiment eines Wanderers, ein kurioser und distanzierter Affekt; das wissen wir.
Lena Marie Emrich, Untitled (Bianca) , 2024, Photo mounted on security glass with crystal finish, 65 x 125 cm, Edition: 3, Courtesy the artist and OFFICE IMPART, Photo: Marjorie Brunet Plaza
Brutale Luft versiegt in den abstrahierten metallischen Händetrocknern der V Series (2024), die für gewöhnlich in scharfen Atemzügen herunter pfeift. Emrich konfrontiert uns mit einem skulpturalen Tête-à-Tête, das die heftige, aber wirksame kommende Luft ablehnt – die Vorahnung möglicher Harmonie, die im gegenwärtigen Chaos eingeschrieben ist. Mögliche, aber verschlossene Durchgänge, in denen sie uns rät: Umarmt das Chaos, und es wird die Prosa der Absicht malen. Atem ist ausdrucksstärker als Worte, ein wunderbares Phänomen auf allen Vieren, das bellt und schäumt und sein hoffnungsvolles Gelingen in purer Ausgeglichenheit preist. Hat Emrich gesagt, dass sich Poesie definieren lässt? Nein, hat sie nicht.
Poesie ist wirklich nichts.
Text: Estelle Hoy
Lena Marie Emrich (geboren 1991 in Göttingen) lebt und arbeitet in Berlin. 2017 schloss sie ihr Studium an der Kunsthochschule Weißensee Berlin und der Academy of Fine Arts Warschau ab. Ihre Arbeiten wurden u.a. in der DS Gallery Paris (2024), der Kunsthalle Osnabrück (2019), dem Kunstverein Göttingen (2020), dem Kunstraum LLC, New York (2018) und dem Sprengel Museum, Hannover (2021) gezeigt. Von 2021 bis 2022 wurde Emrich mit dem Preis des Kunstvereins Hannover ausgezeichnet. Im Jahr 2020 erhielt sie den Preis der Berlin Masters Foundation. Für 2021/2022 wurde sie mit dem Kunstpreis des Kunstvereins Hannover ausgezeichnet. Im Jahr 2023 erhielt sie das NeuStartPlus-Stipendium der Stiftung Kunstfonds, um das Projekt The Darkest Corners in Zusammenarbeit mit Marlene A. Schenk zu realisieren. Ihre Arbeiten befinden sich in Sammlungen wie der Burger Collection, dem Sprengel Museum, der Giancarlo Ligabue Foundation, der ADAC Collection, der Arndt Collection und der Marval Collection.
Vernissage: Freitag, 15. November 2024, 18-21 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 15. November 2024 bis Freitag, 10. Januar 2025
Bildunterschrift Titelbild: Lena Marie Emrich, 07:09, 2024, Back Seat Series, Recycled Hard Platic, Car paint, Magnet, 43,5 x 37 x 3 cm, Unique, Courtesy the artist and OFFICE IMPART, Photo: Marjorie Brunet Plaza
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