bis 09.07. | Das Haus der Kulturen der Welt (HKW) zeigt derzeit die Ausstellung „Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930“. Ende Mai wird in deren Rahmen eine Konferenz stattfinden sowie eine Publikation erscheinen.
Wie reagierten die künstlerischen Avantgarden auf die vielfachen Krisen der europäischen Moderne um 1930? Das Ausstellungs- und Rechercheprojekt Neolithische Kindheit will nicht von Neuem das Scheitern der Kunst an der Wirklichkeit nachweisen. Vielmehr untersucht es die atemberaubenden, oft widersprüchlichen Fusionen ästhetischer, wissenschaftlicher und politischer Strategien, mit denen sich die Zeitgenossen der Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen in Paris, Berlin und Prag zu einer als „fundamental falsch“ erlebten Gegenwart verhielten. Die kapitalistische Strukturkrise und die durch sie verursachte materielle Not hatten an der verfahrenen Situation ebenso Anteil wie die rapide Entwicklung der Massengesellschaft und die Beunruhigung des Denkens im Zeichen wissenschaftlich-technischer Durchbrüche und globaler imperialer Expansion. Dieses Tableau der Turbulenzen regte die künstlerischen Avantgarden und die Wissenschaften vom Menschen zu einer unablässigen Suche nach Ursprüngen und einer Konstruktion von alternativen Anfängen an. Auf dem umkämpften Feld der Utopien, Geschichtsschreibungen und Ideologien wurde der „Nullpunkt“ zur Grenzfunktion der Moderne.
Frits van den Berghe, Engel boven brandende Stad [Engel über brennender Stadt],
1929, Öl auf Leinwand, 87 x 72 cm. © Privatsammlung, Düsseldorf
Der Titel des Projekts, Neolithische Kindheit, geht auf Carl Einstein (1885–1940) zurück. In einem Essay über die Kunst von Jean (Hans) Arp interpretierte der Kunsthistoriker die Bildelemente in Arps Kunst als Wiederholung des rituellen, „prähistorisch“ anmutenden Spiels von Kindern. Ausgehend von den Schriften Einsteins, dieses noch viel zu wenig bekannten Denkers der Krise, konfrontiert die Ausstellung mit der produktiven Verzweiflung an der Gegenwart im Europa der Zeit um 1930. Allenthalben wurde der Verlust sozialer Bindekräfte, die Isolierung der Individuen, die Atomisierung der Gemeinschaft diagnostiziert. Es erschien notwendig, die gesellschaftliche Ordnung neu zu begründen oder gleich ganz hinter sich zu lassen. Damit stieg auch das Interesse an „archaischen Schichten“. In der Frühgeschichte der Menschheit wurden Ressourcen für eine notwendige „Abänderung“ des Humanen und neue Formen der Kollektivität entdeckt. Vorstellungen über urzeitliche Anfänge und eine geschichtliche wie individuelle Kindheit spielten zentrale Rollen bei der Neubestimmung des Projekts der Moderne.
So verschränkte sich von den 1920er bis in die 1940er Jahre die künstlerische Avantgarde im Umfeld des Surrealismus mit den Wissenschaften vom Menschen. Neolithische Kindheit dokumentiert dieses intensive Zusammenwirken von bildender Kunst, Politik, Philosophie, Ethnologie, Psychologie und Naturwissenschaften in einer Epoche historischer Umbrüche. Die Ausstellung zeigt dazu Kunstwerke neben zahlreichen Publikationen und Archivalien.
Die Ausstellung zeigt Kunstwerke, neben zahlreichen Publikationen, Archivalien und Filmen, von Jean (Hans) Arp, Willi Baumeister, Georges Braque, Claude Cahun, Maya Deren, Sergei Eisenstein, Max Ernst, T. Lux Feininger, Florence Henri, Hannah Höch, Heinrich Hoerle, Valentine Hugo, Paul Klee, Germaine Krull, Len Lye, André Masson, Richard Oelze, Wolfgang Paalen, Jean Painlevé, Alexandra Povòrina, Gaston-Louis Roux, Kurt Seligmann, Kalifala Sidibé, Jindřich Štyrský, Toyen, Frits Van den Berghe, Paule Vézelay, Catherine Yarrow und anderen.
Catherine Yarrow, Crouching Female, 1935, Aquarell,
35,2 x 32,5 cm. © Estate of Catherine Yarrow/Austin Desmond Fine Art.
Die ausgestellten Druckerzeugnisse und Archivalien belegen die vielfältige und aktive Rolle, die Kunst, Wissenschaft und politische Theorie für die Wahrnehmung der Krisen und die Radikalisierung der Gesellschaft um 1930 spielten.
In Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, Berlin, wurden die Werkmanuskripte und Briefe Carl Einsteins, die seit 1966 dort archivisch betreut werden, vollständig digitalisiert. In der Ausstellung werden Originalhandschriften und -typoskripte aus dem Archiv zu sehen sein. Das digitalisierte Archiv ist ab 12.4.2018 freigeschaltet: www.adk.de/einstein siehe gesonderte Pressemitteilung: Digitalisierung Carl-Einstein-Archiv
Eine umfangreiche, reich illustrierte Publikation dokumentiert und kontextualisiert die Ausstellung. Zu den Autor_innen gehören u. a. Irene Albers, Philipp Albers, Joyce Cheng, Rosa Eidelpes, Anselm Franke, Charles W. Haxthausen, Tom Holert, Clemens Krümmel, Ulrike Müller, Jenny Nachtigall, David Quigley, Cornelius Reiber, Kerstin Stakemeier, Maria Stavrinaki, Elena Vogman, Zairong Xiang, Sebastian Zeidler.
Die Publikation erscheint Ende Mai 2018.
Zur Ausstellung erscheint ein Begleitheft mit einem einführenden Text, Werktexten und einem ausführlichen Lageplan.
Kuratiert von Anselm Franke und Tom Holert; mit wissenschaftlicher Beratung durch Irene Albers, Susanne Leeb, Jenny Nachtigall, Kerstin Stakemeier.
Eröffnung: Donnerstag, 12. April 2018: 19:00 Uhr: Ausstellung geöffnet, 19:15 Uhr: Begrüßung durch Staatsministerin für Kultur und Medien Prof. Monika Grütters MdB, Bernd Scherer, Intendant HKW sowie die Kuratoren Anselm Franke und Tom Holert (Vortragssaal)
Ausstellungsdaten: Freitag, 13. April – Montag, 09. Juli 2018
Konferenz: Samstag, 26. Mai – Sonntag, 27. Mai 2018
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Im Rahmen von Kanon-Fragen, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Unterstützt von der Akademie der Künste, Berlin. Digitalisierung des Carl-Einstein-Archives realisiert mit Mitteln des Hauses der Kulturen der Welt im Rahmen von Kanon-Fragen.
Das Haus der Kulturen der Welt wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Auswärtigen Amt.
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