bis 02.10. | #3155ARTatBerlin | Contemporary Fine Arts präsentiert derzeit die Einzelausstellung „Margaritas at the Mall“ des Künstlers Nick Goss.
Es ist reiner Zufall, dass Nick Goss und ich so viele gemeinsame Erinnerungen an die Shopping Mall* haben und dass ich eingeladen wurde, über seine neuen Bilder zu schreiben, die von diesen bekannten Orten inspiriert sind: eine Rauferei im Suff in der Palace Bowl; Menschengruppen, die auf genau diesen Rolltreppen abhängen; eine Bahn der Bakerloo Line, die auf den Bahnsteig bei Elephant & Castle einfährt, der, fast leer, Raum für ein überraschendes Beispiel von freundlichem Kameradschaftsgeist bietet. Es ist bei den Bildern nicht so wichtig zu wissen, um genau welchen Zug und welches Einkaufszentrum es sich handelt. Aber das, was mit diesem Verkehrskreisel, diesen Straßen geschehen ist, eignet sich hervorragend, um von unserer Zeit und ihren Menschen zu sprechen: von der Stadt als dem Platzhalter für Verlust und Erinnerungen; von Bildern als Todesmasken und tragenden Strukturen. An diesem Verkehrsknotenpunkt werden wir optisch und akustisch mit dem Ende des schamlosen Idealismus der Moderne konfrontiert und mit der neoliberalen Flutwelle, die in den letzten Jahrzehnten Großbritannien kontinuierlich überflutet und auf den Straßen einen zombiehaften Zustand hinterlassen hat – wohl der Grund dafür, dass sich statt der berühmten „stiff upper lip“ ein neuer britischer Affekt par excellence verbreitet hat: eine leichte Verzweiflung, eine feierliche Stille unter dem Trubel.
Goss’ neue Bilder fangen diesen Affekt ein, aber zu einem abstrakten Distanzgefühl gereift – gegenüber anderen Menschen, Orten und Zeiten …
… In seinen Bildern scheint Goss auf den Modus der Erinnerung abzuzielen – wie sie zu jedem Zeitpunkt zwangsläufig mehr als einen Ort und mehr als eine Logik enthält. Alte Fotografien von niederländischen Landschaften oder Einzelheiten von den wilden Stickereien der schottischen Königin Maria Stuart finden ihren Weg in die Kompositionen – sichtbar durch die Fenster in End of the Line –, um das sehr reale Gefühl zu erzeugen, dass die Wahrnehmung von der Fantasie erweitert wird; eine Erinnerung daran, dass die Welt immer demjenigen gehört, der sie sieht … Ein weiterer solcher Mechanismus ist seine Verwendung von Drucken. In Argument ist der Teppich – übersät von unglücklichen Trinkern, Flaschen, dazu ein Gesicht, als wäre es gespiegelt oder auf dem Cover einer Zeitschrift abgebildet – ein Druck des Teppichs, mit dem der Boden von The Palace Bowl ausgelegt war … So wandern unsere Gedanken und werfen Dinge ab, Überreste lösen sich und machen sich wieder fest. Es geht in der Arbeit um ihre eigenen Bausteine und darum, wie ein Eindruck sofort mit der Fantasie zusammenstößt und eine interne Sprache aus Figuren, Mustern und Farben bildet … Die Bilder sind nicht traurig, aber in ihrer Geräumigkeit und merkwürdigen Stille strahlen sie eine Schwere aus.
… was wir in Goss’ Samples vom Elephant & Castle-Einkaufszentrum sehen, hat es so nie gegeben; jedenfalls nicht wirklich. Sicher, der Reiz dieses Orts als Motiv kommt vom damit verbundenen Abstieg in den Limbus (die Vorhölle) – wie bei allem, was einmal hinterfragt wird, regt sich das Leben. Aber Objekte im Limbus sind transparente Dinge, durch die, wie Vladimir Nabokov schreibt, „die Vergangenheit hindurchscheint“, und die Vergangenheit ist großteils eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen …
Wenn die Band Dry Cleaning mein Gedächtnis triggert, dann ist es, weil sie ihre Hörer – ganz ähnlich wie Goss – in Assoziationen einkuschelt, in die Fragmente des Lebens, das wir teilen, herausgerissen aus den Kontexten, die uns voneinander trennen. In der Distanzierung steckt Humor, wie auch in Goss’ Bildern, und hinter dem, was wir sehen, liegt viel mehr verborgen, wie flach oder vergammelt oder vergeblich es auch erscheinen mag. Es hat Spaß gemacht in der Bowling Alley, bis es halt keinen mehr gemacht hat … oder etwa nicht?
Auszüge aus dem Katalogtext von Kristian Vistrup Madsen
* Elephant and Castle Shopping Centre – das erste überdachte Einkaufszentrum Europas öffnete 1965 und wurde 2021 abgerissen.
Ausstellungsdaten: Samstag, 4. September – Samstag, 2. Oktober 2021
Ausstellung Nick Goss – CFA Berlin | Zeitgenössische Kunst – Contemporary Art | Ausstellungen Berlin Galerien | ART at Berlin