bis 26.03. | #2921ARTatBerlin | Sexauer Gallery zeigt ab 2. Dezember 2020 die Ausstellung „Ich halte es für eine Tragödie, daß wir uns nicht gefunden haben!“, eine künstlerische Reanimation aus dem Geiste der KI der Künstlerin Ornella Fieres.
In ihrer dritten Ausstellung bei SEXAUER transformiert Ornella Fieres ein Konvolut an Briefen, Postkarten und Fotografien unter Zuhilfenahme künstlicher Intelligenz (KI) in Kunstwerke: Textbasierte Videoarbeiten, Ready-made-ähnliche Textobjekte und KI-generierte Pflanzenbilder.
Zur Entstehungsgeschichte: 2016 erwarb Fieres eine Kiste mit etwa siebenhundert nachgelassenen Briefen der 1960er und 70er Jahre aus der ehemaligen DDR. Die Briefe, darunter Postkarten und Fotografien, waren an eine Frau in Ost-Berlin gerichtet, die nur wenige hundert Meter von der Galerie SEXAUER entfernt wohnte. Unter den Briefen fanden sich auch einige wenige, die die Empfängerin selbst verfasst hatte.
Die Ausstellung gliedert sich in drei Werkgruppen. Für die erste ließ Fieres die handschriftlichen Texte von einer auf einem neuronalen Netzwerk basierenden künstlichen Intelligenz in Druckschrift transkribieren. So machte sie die Texte mit teilweise schwer leserlichen Handschriften inhaltlich zugänglich. Manche der über ein halbes Jahrhundert alten Briefe waren noch in Sütterlinschrift verfasst.
Fieres suchte über hundert Textfragmente aus, meist einzelne Sätze, und zeigt diese in der Ausstellung auf drei alten Monitoren. Aufgrund eines Zufallsgenerators wechseln die gezeigten Textfragmente, so dass immer neue Textzusammenhänge entstehen. Manchmal sind die Transkriptionen mit kleinen Fehlern behaftet. Eine KI-generierte Stimme bringt die Texte außerdem zu Gehör.
„Die Erdbeeren verfallen alle im Garten, bei den wegen Regen.“
In der zweiten Werkgruppe ließ Fieres die Fotografien KI-basiert analysieren, d. h. Bildgegenstände erkennen, und die Gegenstände schriftlich beschreiben. In Collagen zeigt Fieres die Rückseite der Originalabzüge und darunter den KI-formulierten Text der Bildbeschreibung.
„a man sitting on a bench in a field.“
In der dritten Werkgruppe speiste die Künstlerin ein neuronales Netz mit den Daten von damals typischen Blumenmotiven der im Konvolut befindlichen Postkarten. Fieres generierte KI-basiert aus diesen Daten neue Pflanzenbilder von eigentümlicher Schönheit.
„Ich glühte vor Aufregung.“
In den drei Werkgruppen dekliniert Fieres ein künstlerisches Verfahren, das ihren Arbeiten eigentümlich ist: Digitale Algorithmen und neuronale Netze transformieren historisches Bild- und Textmaterial in neue Bilder, Texte und Töne. Fieres beschwört Bilder der Vergangenheit und setzt dabei neue in die Welt. Dem Anschein nach könnte es sich um eine technizistische Praxis handeln, aber das Gegenteil ist der Fall. Denn sowohl das künstlerische Verfahren als auch die Arbeiten selbst haben etwas Okkultes, Anarchisches und sogar Spirituelles. Die künstlerische Strategie von Fieres ist ein Wechselspiel von Entdecken und Verdecken, Offenbaren und Verschleiern, Finden und Verlieren, bewusster Auswahl und Kontrollverlust.
„Der Mensch ist doch keine Maschine.“
Worin besteht das Wechselspiel von Entdecken und Verdecken? Zunächst einmal macht die künstliche Intelligenz die Dokumente überhaupt erst lesbar, indem sie die schwierig zu entziffernden Handschriften in Druckschrift umwandelt. Andererseits hat die künstliche Intelligenz eine gewisse Fehlerquote, so dass im schlimmsten Fall Bedeutung verändert wird oder verloren geht.
„Wo soll das noch hinführen.“
Die Bilderkennung ist fehleranfällig wie die Texterkennung. Indem Fieres uns die Bildinhalte der Fotografien vorenthält, weil sie nur die Rückseiten zeigt, macht sie es dem Betrachter unmöglich, Bildinhalt und Bildbeschreibung zu vergleichen und somit deren Übereinstimmung zu überprüfen. Natürlich befeuert Fieres damit die Vorstellungskraft des Betrachters, der den gelesenen Bildinhalt geistig auf die Rückseite der Fotografie projiziert und sich außerdem fragt, ob dieser zutreffend ist. So entsteht ein eigenes Bild im biologischen neuronalen Netz – oder sagen wir: im Kopf.
„Meine Stimmen verstellte ich.“
Die künstlerische Intelligenz von Fieres und die künstliche Intelligenz der Algorithmen wirken dabei zusammen. Die künstliche Intelligenz transkribiert die Texte und Fieres wählt die Fragmente aus. Und wie immer gibt Fieres an verschiedenen Stellen im Produktionsprozess die Kontrolle ab oder schaltet den Zufall ein, wie zum Beispiel bei der Anzeige der Textfragmente in den Videos.
„Mit meinen Gedanken war ich gar nicht bei der Sache.“
Besonders „zauberhaft“ ist die Umwandlung der DDR-typischen Blumenpostkarten in neue Pflanzenbilder, die etwas Malerisches haben. Sie sind uns nah und fern zugleich. Wie in einer beschleunigten Evolution werden durch unzählige kleine Abweichungen und Variationen neue Arten geschaffen, die uns bekannt vorkommen, vertraut und doch fremd.
„Es liebt uns nichts.“
Historisch haben technische Revolutionen schon immer gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen nach sich gezogen. Diesen Veränderungen standen die Menschen fasziniert wie auch skeptisch gegenüber. Vor allem wurden die Veränderungen in ihrer Totalität und Komplexität oft als nicht greifbar, bedrohlich und geheimnisvoll erfahren. Dies ist auch bei den Phänomenen der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens der Fall. Bei diesen Techniken gibt es verborgene Schichten sowie eine Komplexität, die zu einem tatsächlichen oder scheinbaren Eigenleben führen. Der Künstler, der die genauen Abläufe ebenfalls nicht kennt, wird so zum Magier, der das Digitale mit dem Okkulten vereint.
„Ich möchte noch nicht sterben.“
Trotz aller Transformationen bleiben alle Arbeiten an die Briefe, Postkarten und Fotografien aus der DDR der 1960er und 70er Jahre rückgekoppelt, an Dokumente aus einem unfreien Land, aus einer Zeit, in der künstliche Intelligenz im Leben der Menschen noch keine Rolle spielte. Immer wieder scheinen in den Texten und Bildern die Umstände und die Ästhetik jener Zeit hindurch, jenes Ortes und manchmal auch des politischen Systems.
„Man muss sich ja jedes Wort genau verlegen, was man schreibt.“
Der größte Zauber aber ist: Die Ausstellung bringt einem diese unbekannte Frau nahe. Eine Reanimation, fast eine Wiedergeburt. Durch all die Transformationen durch künstliche Intelligenz, Rechenvorgänge und maschinelles Lernen scheint das Wesen dieser Frau, dieses Lebens, dieser Zeit.
„Im Augenblick sind leider die Theater geschlossen.“
Vernissage: Sonntag, 29. November 2020, 12:00 – 18:00 Uhr
Ausstellungsdaten: Mittwoch, 2. Dezember 2020 – Mittwoch, 20. Januar 2021 – ACHTUNG! verlängert bis Freitag 26.März 2021
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